
Die Geschichte vom Zauberspiegel des Simeon Donnerherz
I. Der Spiegel
Simeon Donnerherz war ein heiliger Mann, der vor langer Zeit in einem Land auf dem europäischen Kontinent lebte. Er erschuf einen Spiegel, den er als Geschenk für die ganze Menschheit segnete. Einen Zauberspiegel mit einer ganz besonderen Magie. Anstelle einer materiellen Spiegelung, sieht derjenige, der sich darin spiegelt, direkt in die eigene Seele und wird für immer glücklich.
Simeon Donnerherz stellte seiner Zeit den Spiegel vor sein Haus. Da sein Domizil weit entfernt vom Dorf lag, kamen nicht viele Menschen daran vorbei. Zumeist waren es arme Pilger oder Bauern, die in der Nähe ihre Felder bestellten. Der erste der in den Spiegel blickte war ein junger Pilger namens Noe. Auf seinem Weg zur Passstrasse von Norden nach Süden war er an Simeon Donnerherz’s Haus vorbeigekommen. Beim Blick in den Spiegel blieb ihm zunächst beinahe das Herz stehen. Mit einem Schlag hatte er sein wahres Selbst erkannt. Unendliche Glückseligkeit erfasste ihn. Er würde für immer glücklich sein und sich nie wieder um etwas sorgen müssen. Er blickte erstaunt auf dem Mann der vor dem Haus sass. „Wie ist Dein Name?“ fragte er. „Donnerherz“ kam zur Antwort. „Was ist das für ein wundervoller Spiegel?“ „Das ist Dein Spiegel und Mein Spiegel.“ antwortete Donnerherz. Noe lächelte, „Ich verstehe. Dein Spiegel und Mein Spiegel.“ und zwinkerte Donnerherz zu. Donnerherz lächelte zurück. „Erzähle den Menschen von unserem Spiegel. Mögen sie alle einen Blick hinein werfen.“ Noe nickte ihm zu und wanderte unendlich glücklich, als vollkommen verwandelter Mensch weiter Richtung Süden. So sprach es sich herum. Die Bauern erzählten es ihren Frauen und Kindern und so wurden es, in den vielen Jahren, in denen Simeon Donnerherz den Spiegel vor seinen Haus platzierte, mehrere hundert Menschen, die immerwährende Glückseligkeit durch den Spiegel erlangten. Auch Wohlhabende bekamen von dem Spiegel zu hören und mancher bot ihm beträchtliche Summen Geld für den Erwerb des Spiegels. Doch Donnerherz lehnte alle Angebote ab. Er liess jedoch die Herrschaften jeweils einen Blick in den Spiegel werfen und danach wollten diese ihn, in vollster Zufriedenheit, gar nicht mehr haben. Einzig wenn der Spiegel in seinem eigenen Besitz bleibe, sei gewährleistet, dass er der Menschheit uneingeschränkt zugänglich bleibe und so seiner Bestimmung nachkomme, erwiderte Donnerherz stets wenn jemand den Spiegel kaufen wollte. Einmal versuchte ein Dieb den Spiegel zu stehlen. Nachdem er jedoch einen kurzen Blick in den Spiegel geworfen hatte, liess er voller Glückseligkeit davon ab. Und so verblieb der Spiegel im Besitz seines Schöpfers und die Leute besuchten ihn, blickten in seinen Zauberspiegel und wurden glücklich und zufrieden.
Kurz vor seinem Tod übergab Donnerherz den Zauberspiegel seiner Tochter FeuerErde mit der Bitte, dafür zu Sorge zu tragen, dass der Spiegel den Menschen weiterhin zugänglich bleibt. FeuerErde war nach dem Tod ihres Mannes zurück zu ihrem Vater aufs Land gezogen. Ihr Mann war vor vielen Jahren im ersten grossen Krieg des Jahrhunderts bei einem Scharmützel an der Grenze des Landes gefallen und FeuerErde hatte nicht dass Bedürfnis gehabt, sich wieder zu vermählen. FeuerErde versprach ihrem Vater, seiner Bitte nachzukommen und Donnerherz konnte in Frieden sterben.
FeuerErde verblieb im Haus ihres Vaters und stellte den Spiegel, wann immer möglich, auf eine Staffelei davor. Doch es wurden immer weniger Menschen, die vorbei kamen. Politische Unruhen machten sich bemerkbar. Ressourcen wurden knapper und das Reisen immer schwieriger.
Dann kam erneut Krieg über den Kontinent. Eine fremde Macht hatte ihr Territorium ausweiten wollen und überrollte die Länder mit ihrer Kriegsmaschinerie. Die Armeen zogen über das Land und eines Morgens sah FeuerErde durch ihr Fenster, wie die feindlichen Truppen über die Hügelkuppe in das Tal strömten. FeuerErde wusste, dass sie sich nicht verteidigen konnte. Sie hatte keine Waffen, und selbst wenn sie welche gehabt hätte, würde sie niemals eine Waffe auf ein anderes Lebewesen richten. Aber sie konnte versuchen den Spiegel einzusetzen. So hielt sie den Spiegel vor sich an die Brust gepresst als ihr Haus von den Soldaten überfallen wurde. Der erste Soldat den sie sah, blickte direkt in den Spiegel. Im selben Moment schlug etwas gegen FeuerErde’s Kopf und sie wurde ohnmächtig. Der Spiegel fiel mit der Spiegelfläche nach unten liegend zu Boden. Der Soldat, der in den Spiegel geblickt hatte, ein junger Unteroffizier Namens Gabriel Kerner, wusste nicht wie ihm geschah. Er hatte in sein tiefstes Inneres geblickt. Glückliche Gefühle des Friedens wie er sie noch nie gekannt hatte durchströmten ihn. Der Offizier, der durch die Hintertür ins Haus geschlichen war und FeuerErde niedergeschlagen hatte, sah Kerner fragend an. „Was ist mit Dir?“ Kerner antwortete nicht. „Was zum Teufel ist mit Dir los, Kerner? Steh nicht blöd herum. Lass alles aufladen, was irgendwelchen Wert hat und wird die Frau los.“ Kerner blickte seinen Vorgesetzten lächelnd an. „Das kann ich nicht.“ antwortete er. „Sehen sie denn nicht? Wir können doch alle zusammen in Frieden leben.“ „Hast Du den Verstand verloren, Kerner?“ „Nein, Herr Leutnant, im Gegenteil. Schauen sie in den Spiegel dort.“ Kerner zeigte auf den Fussboden neben der bewusstlosen FeuerErde. „Den Teufel werd ich, Kerner! Du verrichtest sofort deine Pflicht, das ist ein Befehl.“ „Es tut mir leid, Herr Leutnant, aber ich kann an diesem Krieg nicht mehr teilnehmen.“ Kerner blickte den Leutnant bedeutsam an. „Wir sollten den Krieg hier und jetzt beenden.“ „Bist du nun endgültig übergeschnappt, Kerner? Das steht nicht in unserer Macht, das weisst du. Wir gehorchen einem Befehl.“ Der Leutnant war ausser sich. Kerners Augen blitzten als er sagte: „Wenn alle sich dem Befehl widersetzen, gibt es auch keine Befehle mehr.“ Kerner wies erneut auf den Spiegel am Boden.
Der Leutnant seinerseits, wies einen anderen Soldaten an, an Kerners Stelle die Befehle auszuführen. „Und du kommst mit, Kerner!“ Der Leutnant bedeutete Kerner, mit ihm das Haus zu verlassen. „Was geschieht mit der Frau? Und der Spiegel. Was ist mit dem Spiegel?“ „Mach Dir lieber Gedanken darüber was mit dir geschieht, Kerner.“ Während der Leutnant mit Kerner dass Haus verliess, begannen die Soldaten mit der Plünderung.
Als FeuerErde zu sich kam brummte ihr Schädel. Lärm drang in ihre Ohren. Kam das von Hinten oder von Vorne? War sie Tod? Sie öffnete die Augen. Sie lag seitlich auf dem Boden. Zwei Soldaten waren gerade dabei, das Zimmer zu verwüsten. Blitzartig kam ihr der Gedanke an den Spiegel. Sie hob den Kopf. Dort, etwa zwei Meter von ihr entfernt lag er. Unglücklicherweise mit der Spiegelseite nach unten, wie sie gerade noch erkennen konnte. Sie erhob sich mehr. Noch hatten die beiden Soldaten im Zimmer keine Notiz von ihr genommen. Sie bewegte sich ein Stück in Richtung des Spiegels. Während sie die beiden Soldaten immer im Blickfeld hatte, rückte sie sich langsam, Stück für Stück in Greifnähe des Spiegels. Sie erhob sich als sie etwas kaltes in ihrem Nacken spürte. Zuerst dachte sie, sie sei gegen etwas gestossen. Dann wusste sie was es war. Sie hatte den dritten Soldaten nicht gesehen. „Schon wieder“, schoss es FeuerErde durch den Kopf. Sie erwog für einen Moment ob die Zeit reichen würde, den Spiegel umzudrehen, bevor die Kugel sie treffen würde.
Der Gefreite Heinrich hatte alles beobachtet. Während Bracht und Schwarzkopf die Bude durchsuchten, stand er am Fenster beim Tisch. Er hatte gesehen, wie die Frau vor ihm auf dem Boden ihren Kopf gehoben hatte und dann langsam begonnen hatte davon zu kriechen. Als sie schliesslich aufstehen wollte, hielt er ihr den Lauf seines Gewehres in den Nacken. „Nana, wo solls denn hingehen?“ Die Frau bewegte sich keinen Millimeter. Keine Bewegung, kein Wort, eine Ewigkeit. Plötzlich scherte sie nach links aus und ergriff etwas vom Boden. Heinrich schoss. Verfehlte jedoch. Die Frau lag vor ihm auf dem Boden und hob die Arme in die Höhe. Heinrich schoss noch einmal. Die Frau hatte Heinrich einen Spiegel entgegen gehalten. Einen kurzen Augenblick hatte er etwas in dem Spiegel aufblitzen sehen. Dann war die Fläche dunkel. Die Kugel drang direkt in FeuerErde’s Herz ein. Sie war auf der Stelle tot.
Derweil hatte der Leutnant Gabriel Kerner zu einem Lastwagen geführt. „Hör zu Kerner. Du bist ein guter Soldat und Kamerad, und das ist auch der Grund weshalb ich dich nicht auf der Stelle wegen Befehlsverweigerung erschiessen lasse. Aber ich werde dich verhaften und einsperren. Ein Gericht soll darüber entscheiden, ob du lebst oder stirbst.“ „Der Spiegel, Herr Leutnant, der Spiegel.“ erinnerte Kerner, „finden sie den Spiegel, den die Frau vor sich gehalten hat und blicken sie hinein. Dann werden sie verstehen.“ Der Leutnant sah Kerner lange an und schüttelte den Kopf. „Also gut, Kerner. Zeig mir diesen Spiegel.“ Als die beiden Männer das Haus betraten, waren die meisten Soldaten schon wieder draussen. Sie hatten ein heilloses Durcheinander hinterlassen; indes aber keine nennenswerten Funde gemacht. Der Spiegel lag immer noch auf dem Boden. Neben ihm lag FeuerErde in ihrem Blut. „Dort Herr Leutnant, das ist er.“ Der Leutnant hob den Spiegel hoch und drehte ihn um. „Und was nun, Kerner?“ Gabriel Kerner blickte auf die dunkle, matte Oberfläche, die der Leutnant ihm entgegenstreckte, und dann auf FeuerErde’s leblosen Körper. Tränen flossen über sein Gesicht. Er würde nie verstehen was geschehen war. Und dennoch hatte der Blick in diesen Spiegel sein Wesen vollkommen verändert. Er hatte sein wahres Selbst erfahren. Was auch immer sie mit ihm machen würden, er hatte keine Angst mehr. Ihm fiel ein Satz ein, den er einmal gehört hatte. „Ihr könnt meinen Körper töten, doch meine Seele lebt für immer.“ Gabriel Kerner verstand zum ersten mal in seinem Leben die wahre Bedeutung dieses Satzes. „Ich danke Dir, wer immer du warst. Ich danke dir von Herzen.“ flüsterte er. Gabriel Kerner blickte seinem Vorgesetzten in die Augen und bedeutete ihm damit, dass er sich in sein Schicksal ergeben werde. Der Leutnant bedeutete einem Soldaten, der noch dabei war Benzin zu vergiessen, Kerner zu verhaften. Der Offizier blieb alleine im Haus zurück. Er blickte in die Richtung, in die Kerner abgeführt wurde. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Noch einmal richtete er seine Augen auf die tote Frau zu seinen Füssen und dann auf den stumpfen Spiegel in seinen Händen. Er fragte sich mit einem Mal, ob Kerner vielleicht nicht doch recht gehabt hatte mit seinem Friedensgefasel. Er dachte an seine Frau und die beiden Kinder. Wie gerne würde er sie jetzt wiedersehen und umarmen. Beim Verlassen des Hauses drückte er den Spiegel einem Soldaten in die Hand. „Hier, nimm den auch noch mit.“ Der Soldat verstaute den Spiegel in einer Kiste und lud diese auf einen Lastwagen. Als die Soldaten weiterzogen brannte das Haus von Simeon Donnerherz lichterloh.
Die angreifenden Kriegsführer, der oberste von ihnen ein begeisterter Sammler mythischer Gegenstände, hatten wohl Kenntnis von der Existenz eines Spiegels, der magische Kräfte besitzen soll. Der Spiegel war jedoch unansehnlich matt geworden. Die Spiegeloberfläche war von einen stumpfen Belag überzogen, der keinerlei Reflexion zuliess. Der Rahmen erinnerte mehr an ein Stück Alteisen, obschon seine kunstvolle Gestaltung einen potenziellen Wert erahnen liess. Dennoch wurde der Spiegel, von keinem der Offiziere, die später die geraubten Gegenstände inspizierten, als etwas Spezielles erkannt. Sie hielten ihn für nicht besonders wertvoll und liessen ihn, einzig seines Rahmens wegen, mit tausenden anderen geraubten Gegenständen, in einem grossen Kellerlager verschwinden.
Der Krieg dauerte an und mit der steigenden Intensität der Kriegsgeschehnisse, geriet das Lager mehr und mehr in Vergessenheit und zuletzt wurde es gar nicht mehr unterhalten. Erst viele Jahre später, lange nachdem der Krieg beendet und der Aggressor besiegt aus den besetzten Gebieten vertrieben worden war, wurde das Lager entdeckt und aufgelöst. Die darin befindlichen Gegenstände wurden, wenn möglich, ihren Besitzern zurückgegeben. Der Zauberspiegel konnte niemandem zugeordnet werden. Er wurde zum Verkauf freigegeben und schliesslich Teil einer Fracht, die in die Vereinigten Staaten verschifft wurde.
Ein kalifornischer Grosseinkäufer namens Hopkins, von der Firma Harrison & Hopkins, hatte acht Container, randvoll gefüllt mit Ware vom Kontinent aufgekauft. Es dauerte eine Weile, bis die Fracht aussortiert worden war. Vieles davon konnte Hopkins gleich unter der Hand verkaufen. Den Rest, immer noch eine beachtliche Zahl von 1597 Objekten, bot er in einer grossen Halle im Hafen von Los Angeles zum Verkauf an. Der Zauberspiegel wurde im Paket, zusammen mit 122 weiteren Objekten, an einen Trödler namens Jones verkauft.
Albert Jones’ Antiquitätengeschäft befand sich am Santa Monica Blvd. in West Hollywood. Er hatte den Laden vor zehn Jahren von seinem Vater, Albert Jones Sr., einer Koryphäe auf dem Gebiet der Antiquitäten, übernommen. Dieser hatte ihn stets ermahnt, Ware vom Kontinent zu kaufen, wenn sie günstig zu haben sei. „Die steigt immer im Wert!“ pflegte er zu sagen. „Und kurios ist sie meistens auch, das zieht in Hollywood.“ Albert Jones hatte sich seit jeher an die Anweisungen seines Vater gehalten und so war er hellhörig geworden, als zu vernehmen war, dass im Hafen von Los Angeles ein Grossverkauf kontinentaler Ware stattfinden würde. Albert Jones zählte sich zu den kleinen Fischen im Antiquitätengeschäft. Er war nicht sonderlich an Gegenständen von materiellem Wert interessiert. Seine Leidenschaft galt eher dem Ausgefallenen. Einmal hatte er eine Lampe besessen, deren Sockel aus den Skulpturen dreier nackter Männer bestand, die sich gegenseitig die Genitalien halten; einer davon im Kopfstand. Ein Stück aus dem fernen Sardinien. Gekauft für zwanzig Dollar, verkauft für 200. Einmal mehr auch der Beweis für die Wertsteigerung kontinentaler Ware in Hollywood.
Beim Grossverkauf schlug Albert Jones richtig zu. Er hatte gesammelt was sein Budget und sein Kleinlaster tragen konnten. 123 Objekte hatte er schlussendlich erworben, die er zunächst in seinem Lager am Santa Monica Blvd. unterbrachte.
Und Albert Jones liess sich reichlich Zeit zum Aussortieren der Ware. Jedes einzelne Stück reinigte und reparierte er, wenn es notwendig war, und versuchte indes so viel wie möglich über dessen Herkunft in Erfahrung zu bringen. Nach fünf Jahren hatte er 122 Antiquitäten abgearbeitet, viele davon bereits schon wieder verkauft; mit Gewinn, versteht sich. Das letzte Stück hatte er über all die Jahre vor sich hin geschoben. Es war das Einzige, dass er eigentlich gar nicht haben wollte. Er hätte das olle Ding auch nicht gekauft, aber der Händler hatte es ihm förmlich aufgedrängt. Am Ende hatte er nachgegeben und den Rahmen zum Spottpreis erworben.
Es war wohl ein Spiegel, wie es schien, jedoch spiegelte er nicht. Die Spiegeloberfläche war matt und stumpf, ohne jeden Glanz. Der Rahmen bestand aus verschnörkeltem Metall, mattgrau, wie der Spiegel selbst und mit einer Art Rost überzogen. Jones versuchte den Spiegel zu reinigen. Doch so sehr er auch polierte, es gelang ihm nicht, auch nur die kleinste Reflexion aus der Spiegelfläche zu putzen. Auch der Rahmen blieb von Jones’ Reinigungsversuchen unberührt. Ein Fehlkauf, wie er es geahnt hatte. Trotzdem fand der Spiegel zunächst seinen Platz im Schaufenster. Vielleicht fand sich ja auf die Schnelle ein Dummer, der sich so etwas ins Wohnzimmer hängen möchte: man ist hier schliesslich in Hollywood. Doch niemand wollte den Spiegel haben. Nach drei Monaten hatte sich nicht ein Kunde für das Stück interessiert. Nach einem halben Jahr wurde es Albert Jones zu bunt. Er entfernte den Spiegel aus dem Fenster. „Ich sollte dich wegwerfen.“ sagte er zu dem Spiegel. Lange starrte Albert auf die Spiegelfläche. Er seufzte. „Ich werde Dich im Lager einquartieren, du Kuckucksei. Du tust mir leid, nicht einmal Hollywood will dich.“ Ein eigenartiges Glücksgefühl erfüllte Albert Jones. Er hatte plötzlich die Eingebung, der Spiegel sei bei ihm goldrichtig gelandet.
Zwanzig Jahre später übergab Alfred Jones jr. das Geschäft seinem Sohn Martin. Martin war seit je her an Altem interessiert gewesen. Aufmerksam hatte er seinem Grossvater gelauscht, wenn dieser ihm die abenteuerlichen Geschichten der Antiquitäten erzählte, die er erworben hatte und die Martin so faszinierten. An Albert’s letztem Tag im Laden, führte er seinen Sohn durch die Hintertür ins Lager. „Da gibt es noch etwas. Ich habe hier etwas gelagert, dass hierbleiben möchte.“ Albert zeigte auf eine Kiste am Ende des Regals. „Dieses Paket enthält einen Spiegel, der nicht spiegelt. Behalte ihn auf jeden Fall. Er stammt aus einem Kauf von vor über zwanzig Jahren. Alles Ware vom Kontinent, du weisst ja.“ Albert lächelte. „Es ist wichtig.“ fuhr er ernst fort. „Eines Tages wird jemand kommen und nach ihm fragen.“ „Woher weisst du das?“ wollte Martin wissen. „Der Spiegel hat es mir gesagt.“ Albert lächelte erneut. Martin lachte. „Ich werde den Spiegel behalten. Das verspreche ich dir. Obwohl ich dir kein Wort glaube. Du bist ja noch schlimmer als Grandpa.“
Martin Jones führte das Geschäft seines Vaters und Grossvaters erfolgreich weiter. Während der nächsten knapp dreissig Jahren verkaufte er tausende Gegenstände, vorwiegend Ware aus kontinentalen Ländern, an die extravagante Bevölkerung Hollywoods. Nach einem Spiegel indes, fragte niemand. Es gab zwar Leute, die Spiegel kauften, jedoch explizit nach einem Spiegel fragte keiner. Im Augenblick hatte er nicht einmal einen Spiegel in seinem Laden.
Sein Vater hatte die Wichtigkeit des Spiegels ungewohnt ernst betont. Es werde jemand kommen, der nach einem Spiegel fragen würde, ganz zielstrebend, nach einem Spiegel, nicht nach Spiegeln. Dann solle diese Person den Spiegel bekommen. Und nur diese Person. „Mach einen günstigen Preis oder gib ihn als Geschenk.“ hatte er gesagt. Albert Jones jr. war ein Phantast gewesen, wie auch sein Vater Albert Jones Sr. Er hatte einen ausgeprägt sarkastischen Humor und lästerte zuweilen auch über die Phantasielosigkeit der Käufer. Beide, Vater und Grossvater hatten unheimlich ausschweifen können und Martin war sich manchmal dem Wahrheitsgehalt von Junior und Senior’s Geschichten nicht ganz sicher gewesen. Jedoch hatte Martin stets erkannt wann sein Vater Scherze machte und wann es ihm ernst war. Und mit dem Spiegel hatte er es richtig ernst gemeint. Einmal hatte Martin die Kiste geöffnet, in die Albert den Spiegel verpackt hatte und verwundert auf einen Rosthaufen geblickt. Amüsiert über den Humor seines seligen Vaters hatte er die Kiste wieder verstaut. Der Mythos indes, ging Martin nicht mehr aus dem Kopf. Jeden Kunden, der den Laden in den letzten dreissig Jahren betreten hatte, wurde von Martin gründlich mit der Frage im Kopf gemustert, ob der oder diejenige nach einem Spiegel fragen würde. So auch heute, als gegen 15 Uhr eine etwa 50 jährige Frau den Laden betrat.
II. Catherine
Catherine Darnley hatte ein Faible für Spiegel. Als Kind hatte sie Alice im Wunderland gelesen und war fest davon überzeugt gewesen, dass auch sie selbst in eine wundervolle Traumwelt gelangen konnte, wenn sie nur den richtigen Spiegel besässe. So begann sie schon sehr früh in ihrer Kindheit, kleine Spiegel zu sammeln und zum Zeitpunkt ihrer Volljährigkeit, besass sie schon fast fünfzig grössere Spiegel. Nach dem Studium heiratete sie den Filmproduzenten Jeff Darnley und hatte zwei Kinder mit ihm. An seiner Seite lernte sie viele Leute in Hollywood kennen und nicht wenige davon verhalfen ihr bisweilen, ausgefallene Spiegel zu erwerben. So wuchs ihre Sammlung weiter an.
Mittlerweile lebte sie alleine. Die Kinder längst aus dem Haus, und von Jeff hatte sie sich scheiden lassen, nachdem er wiederholt mit seinen Newcomer-Starlets aussergeschäftliche Meetings abgehalten hatte. Doch ihre Leidenschaft für Spiegel war geblieben. Täglich wanderte sie durch ihr Haus und liess sich von ihren Spiegeln inspirieren. Catherine hatte bei der Scheidung ausdrücklich darauf bestanden ihr Haus am Crestview Drive behalten zu können. Jeder einzelne Spiegel hatte darin seinen Platz gefunden und es wäre, wie sie fand, eine Sünde gewesen, die Spiegel zu bewegen. Finanziell hatte sie sich schon vor Jahren von Jeff unabhängig gemacht. Während der Schulzeit der Kinder hatte sie ein Geschäft für Innendekoration gegründet. Mit Hilfe von Jeff’s Beziehungen und der aussergewöhnlich günstigen Lage des Geschäfts im Herzen von Beverly Hills, hatte der Erfolg nicht lange auf sich warten lassen. Schon nach fünf Jahren war Catherine in der Lage gewesen, den gesamten operativen Teil des Geschäfts abzugeben. Zumindest beinahe. Die dadurch gewonnene Zeit nutzte Catherine um sich auf längere Reisen zu begeben. Sie besuchte Länder auf allen Kontinenten und erwarb dabei immer mal wieder Spiegel.
Ihren neusten Spiegel jedoch hatte sie nicht in Nepal oder Peru gefunden, sondern in einem Antiquitätengeschäft in West Hollywood. Kaum eine halbe Stunde Autofahrt von ihr zu Hause entfernt. Es war schon eigenartig gewesen. Auf der Rückfahrt von einem Besuch ihres Geschäfts in Beverly Hills hatte sie auf dem Santa Monica Blvd. abrupt bremsen müssen. Ein Radfahrer vor ihr, mit einem langen Spiegel unter den Arm geklemmt, hatte beinahe das Gleichgewicht verloren. Eigentlich hätte sie genügend Zeit zum bremsen gehabt aber sie war in dem Moment, als der Fahrer ins Straucheln geriet, mit einem Blick in den Rückspiegel abgelenkt. Ihr Auto kam zum Stehen. Catherine’s Herz raste für einen Moment. Im rechten Augenwinkel las sie „Antiquitäten Jones“. Catherine fuhr ihren Wagen wieder an, weiter auf dem Santa Monica Blvd. Richtung Osten. Antiquitäten Jones. Seltsam. Diesen Laden hatte sie noch nie gesehen, obschon sie doch schon etliche Male hier vorbeigefahren war. Spiegel, schoss es ihr durch den Kopf. Catherine bremste erneut abrupt, diesmal absichtlich, drehte den Wagen und fuhr die paar Blocks zurück. Gegenüber des Gebäudes mit der Aufschrift „Antiquitäten Jones“ parkte sie am Strassenrand.
Als sie das Geschäft betrat hatte sie mit einem Mal das eigenartige Gefühl, genau richtig zu sein. Wofür auch immer. Einen Spiegel vielleicht? Der ältere Herr hinter der Theke blickte neugierig von seiner Lektüre auf. „Kann ich ihnen behilflich sein. Madame?“ fragte er mit freundlicher Stimme. „Haben sie Spiegel?“ Der Verkäufer schien plötzlich enttäuscht. „Nein, tut mir leid. Wir haben im Moment keine Spiegel.“ „Schade“, antwortete Catherine, nun ebenfalls etwas enttäuscht, „ich hatte gedacht, sie hätten vielleicht einen speziellen Spiegel für mich. Ich sammle nämlich Spiegel, wissen sie. Na dann...“ Catherine grüsste und ging Richtung Ausgang. „Einen Augenblick.“ rief die Stimme des Händlers hinter ihr. „Warten sie.“ Catherine drehte sich um. „Es könnte sein, dass ich so etwas wie einen Spiegel für sie habe.“ Catherine blickte den Mann fragend an. Martin Jones trat auf Catherine zu und stellte sich vor. „Ich habe den Laden von meinem Vater übernommen und der wiederum von seinem. An Dad’s letztem Arbeitstag machte er mich auf ein Paket aufmerksam, dass er wohl schon seit zwanzig oder noch mehr Jahren gehütet hatte. Kommen sie.“ Martin führte Catherine in den hinteren Teil des Ladens, der als Lager diente. „Jemand werde kommen und nach einem Spiegel fragen. Der solle dieses Paket dort bekommen.“ Martin zeigte auf eine flache, rechteckige Holzkiste auf einem der Regale und lächelte dabei die erstaunte Catherine verheissungsvoll an. „Seither sind weitere dreissig Jahre vergangen in denen keine einzige Person nach einem speziellen Spiegel, oder überhaupt nach einem Spiegel, gefragt hat. Bis heute.“ Catherine war sprachlos. Martin lachte. „Lassen sie uns das gute Stück betrachten. Ich selbst habe die Kiste seit über zehn Jahren nicht mehr geöffnet.“
Was Catherine sah, als Martin Jones die Holzkiste geöffnet hatte, machte sie noch sprachloser. Sie blickte auf einen etwa vierzig mal fünfzig Zentimeter grossen Rahmen aus mattem unansehnlichem Metall. Darin befand sich zweifellos ein Spiegel, der jedoch nicht spiegelte. „Mein Vater hat gesagt, es ist ein Spiegel der nicht spiegelt. Er stammt aus einer Warenladung vom Kontinent.“ „Ich weiss nicht was ich sagen soll.“ stammelte Catherine. Martin lachte erneut von Herzen. „Ach sie, sagen sie nichts. Wenn sie das Ding haben wollen, schenke ich es ihnen. Wenn sie es nicht wollen, verschwindet es, wahrscheinlich für weitere dreissig Jahre, wieder im Lager.“
Catherine erinnerte sich an die scheinbar zufälligen Ereignisse, die sie in Martin Jones’ Geschäft geführt hatten. Es schien ihr beinahe so, als hätte dieser eigenartige Spiegel sie gefunden und nicht umgekehrt. Sie war sichtlich gerührt als sie Martin Jones anblickte und ihm mit einen Nicken zu verstehen gab, das sie den Spiegel nehmen werde. „Ich bezahle ihnen aber auch gerne etwas dafür.“ „Nein nein, lassen sie nur. Für mich hat der Spiegel keinen materiellen Wert. Und ich freue mich, mein Vater hat recht behalten.“ Martin Jones lächelte. „Mein Vater hätte ihnen jetzt eine wilde Geschichte erzählt, wie der Spiegel schon in ihren vorherigen Leben eine Rolle gespielt hat und sich Dinge und Menschen immer wieder anziehen. Der Spiegel stamme von einem uralten Magier, der ihn mit einen Bann belegt hat, was indes der Grund dafür ist, dass der Spiegel so unansehnlich ist. Und wissen sie was?“ Martin blickte Catherine fragend an. Catherine schüttelte den Kopf. „Ich bin geneigt meinem Vater zu glauben.“ Martin grinste. „Halten sie mich auf dem laufenden.“ „Wie meinen sie das.“ fragte Catherine amüsiert über Martin’s Frohsinn. „Na wer weiss. Nun da der Spiegel heimgekehrt ist,“ Martin sah Catherine erneut mit einem verheissungsvollen Blick an, „vielleicht erwacht der Spiegel plötzlich und entpuppt sich als Tor in eine andere Welt.“ Nun war es Catherine die lachte. „Sie haben zu viele Filme geschaut, Mr. Jones. Übrigens, was ich noch fragen wollte, ist ihr Geschäft schon immer hier gewesen? Ich meine während der letzten zwanzig Jahre.“ „Ja klar. Wieso?“ „Weil ich sie noch nie gesehen habe.“ Marin Jones lächelte verschmitzt. „Vielleicht liegt es an meinem neuen Schriftzug am Schaufenster. Mein jüngster Sohn hat mir geraten, den Namen von Jones Antiquitäten in Antiquitäten Jones zu ändern.“
Als Catherine das Geschäft mit ihrem Paket verliess war ihr beinahe taumelig. Was war denn das jetzt gewesen? So etwas hatte sie nun doch nicht erwartet. Und was für ein eigensinniger Spiegel. Er hatte es Catherine sofort angetan. Zu gern hätte sie noch mit dem eigentlichen Erwerber, den seligen Albert Jones Jr. geredet. Wie war er darauf gekommen, dass der Spiegel auf jemanden warte? Als sie in ihr Auto stieg und entlang des Santa Monica Blvd Richtung Hollywood Hills fuhr, fielen ihr all die Dinge wieder ein, mit denen sie sich in ihrem Alltag beschäftige. Alles schien so weit entfernt. Sie hatte das Gefühl als würde sie sich von diesen weltlichen Dingen entfernen.
Zuhause angekommen, nahm sie das Paket mit in ihr Studio. Sie bemerkte, dass sie ein bisschen Herzklopfen hatte, als sie den Deckel anhob. Da war er. Grässlich unansehnlich und ohne jede Reflexion. Und dennoch ging von dem Spiegel etwas geheimnisvolles aus. Catherine konnte keinen Deut darauf hinweisen, was es war. Es war das unbestimmte Gefühl, dass dieser Spiegel, obschon er äusserlich mehr mit einen Stück Altmetall, als einem wertvollen Kunstwerk zu vergleichen war, auf keinen Fall weggeworfen werden darf. Ein eigenartiger Wert ging von dem Spiegel aus. Sie entschloss sich den Spiegel gleich in ihrem Studio zu belassen. Der freie Platz neben dem Kamin schien ihr die geeignete Stelle für den eigenartigen Kameraden. Seltsam. Sie hatte in dieser kurzen Zeit, in der sie den Spiegel in ihrem Besitz hatte, eine tiefe Bindung zu ihm entwickelt. „Ich liebe alle meine Spiegel gleichermassen, aber du bist mein ganz Spezieller. du Kuckucksei.“ sagte sie zu dem Spiegel und blickte dabei auf die mattstumpfe Oberfläche. Bevor sie an diesem Abend zu Bett ging, öffnete sie noch einmal die Tür in ihr Studio. Als sie das Licht anmachte und zum Kamin blickte, meinte sie zunächst, der Spiegel sei verschwunden. Erst nach einem mehrmaligen Blinzeln erkannte sie den Spiegel neben dem Kamin. Catherine näherte sich dem Spiegel und blickte dabei unentwegt auf die Spiegelfläche. Sie erinnerte sich an die Worte von Martin Jones, der Spiegel könnte eines Tages seine magischen Kräfte offenbaren. Catherine lächelte den Spiegel an und ging mit einem ungewöhnlich freudigen Gefühl zu Bett.
Catherine hatte das Ritual beibehalten, vor dem Schlafengehen einen Blick in ihr Studio und auf ihren Spiegel zu werfen. Die nächsten Monate und Jahre vergingen jedoch ohne dass etwas nennenswertes mit dem Spiegel geschah. Catherine hingegen blieb stoisch. Irgendetwas rief ihr immer wieder Martin Jones und seine Worte in den Sinn. Den wenigen Besuchern, die Catherine in ihrem Studio empfing, war der Spiegel nie aufgefallen. Catherine hatte ihrerseits auch nie auf den Spiegel aufmerksam gemacht. Als sei er unsichtbar hatte einzig ihre Freundin Linda den Spiegel bemerkt. Linda hatte Catherine augenzwinkernd versichert, dass es eher nicht ihr Stil sei, jedoch betont, sie verstehe schon irgendwie, wieso Catherine so von dem Spiegel angetan war. „Der tut mir irgendwie leid. So eine art hässliches Entlein.“ hatte Linda neckisch gesagt.
Nach zehn Jahren hatte sie Martin Jones angerufen und ihm schmunzelnd verkündet, dass vom Spiegel nichts Neues zu berichten sei. Martin Jones hatte sich hörbar über Catherines Anruf gefreut. Es amüsierte ihn, dass sie, Catherine, sich noch an das erinnern würde was er gesagt hatte. Und es tue ihm schrecklich leid, dass der Spiegel immer noch nichts tauge. Bei diesen Worten brach Martin in schallendes Gelächter aus und versicherte Catherine sarkastisch, die Stunde des Spiegels werde kommen.
Weitere Jahre vergingen. Abend für Abend, sofern sie die Nacht zu Hause war, warf Catherine einen Blick in ihren Spiegel. Ab und zu stellte sie den Sinn ihres Rituals schon in Frage. Doch immer wurde ihr Zweifeln von einem Gefühl der Freude und Hoffnung übermannt. So auch an diesem Abend, als Catherine vor den Spiegel trat und auf die stumpfe Oberfläche blickte. Mit einem Mal bemerkte sie eine Veränderung, die sie zuvor noch nie wahrgenommen hatte. Ein Licht schien durch den Spiegel dringen zu wollen. Es erschien ihr, als käme es von ganz weit hinten. Catherine drehte das Licht aus. Tatsächlich, aus dem Spiegel leuchtete etwas hervor. Je länger sie auf das Licht blickte, desto grösser schien es ihr zu werden. Catherine erinnerte sich an ihre Kindheit zurück. Alice im Wunderland, die mit Hilfe eines Spiegels in eine wunscherfüllte Welt wechseln konnte. Bist du der richtige Spiegel?, dachte sie. In diesem Moment fuhr gleissendes Licht aus dem Spiegel. Die Oberfläche nahm eine tief türkiserne Färbung an und der Rahmen begann vor diesem Hintergrund in sattem Schwarz zu glänzen. Catherine war wie angewurzelt vor dem Spiegel stehengeblieben. Sie hatte keine Ahnung wie ihr geschehen war. Beim Blick in den Spiegel hatte sie mit einem Schlag erkannt, wer sie in ihrem tiefsten Inneren war. Endlose Glückseligkeit und unendlicher Frieden durchströmten sie aus dieser Einsicht. Catherine wusste, dass sie sich nie wieder um etwas sorgen musste. Nie wieder Angst haben. Nicht einmal vor dem Tod. Der Spiegel hatte dies bewirkt. Der Blick in den Spiegel. Catherine fühlte tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Schöpfer dieses Werks. Wer war es wohl gewesen? Und weshalb die Verwandlung? Catherine hatte schon öfters über den Spiegel etwas in Erfahrung zu bringen versucht, jedoch stets ohne Erfolg. Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte am Spiegel gefunden mit denen sie hätte arbeiten können. Doch nun war ihre Neugierde mit frischem Schwung geweckt. Dieser Spiegel grenzte an ein Wunder. Sie begann in Internet zu recherchieren. Sie hätte gerne professionelle Hilfe angenommen, jedoch wollte sie auf keinen Fall den Spiegel jemandem zeigen, oder auch nur von seiner Veränderung erzählen, bevor sie nicht seine Herkunft geklärt hatte. Natürlich würde sie dann den Spiegel den Leuten zur Verfügung stellen. Dieser, sie wusste gar nicht, welches Wort sie gebrauchen sollte, Zauber vielleicht, musste auf jeden Fall unter die Leute gebracht werden. Leider war ihre Recherche nicht von Erfolg gekrönt. Sie hatte sich zwar etliche Spiegel aus aller Welt angesehen, die den Ruf inne hatten, magisch zu sein, ihren Spiegel fand sie jedoch nicht. Keines der Bilder stimmte mit ihrem Spiegel überein. Auch die Suchergebnisse für Spiegel und inneres Glück oder ähnliche Begriffe, die Catherine mit dem Spiegel und seiner Ausstrahlung in Verbindung brachte, führten mehrheitlich zu Werbung für esoterische Artikel. Historische Berichte indes fand sie kaum.
Catherine sah von ihrem Monitor auf und blickte auf den Spiegel ihr gegenüber an der Wand. Patricia Campbell fiel ihr ein. Die Archäologin und Historikerin war ihr schon einmal behilflich gewesen, die Herkunft eines antiken Spiegels zu ermitteln. Patricia lebte in San Francisco, das war ideal, um die Veränderung des Siegels noch geheim zu behalten. Catherine wählte Patricias Telefonnummer. Sie beschrieb den Spiegel jedoch lediglich als aussergewöhnlich energiegeladen und dass etwas glücklich machendes von ihm ausgehe. Die schickte Patricia ein Bild, dass sie schon vor Monaten gemacht hatte, lange vor der Verwandlung des Spiegels. „Weisst du noch etwas?“ wollte Patricia Campbell wissen. „Nur soviel dass der Spiegel vom Kontinent stammt und sich sicherlich seit über sechzig Jahren in den USA befindet.“ antworte Catherine. „Ich kann Dir nichts versprechen, aber ich gebe mein Bestes. Ich hab im Augenblick sehr viel Arbeit, es kann also einen Moment dauern.“ Catherine bedanke sich und beendete den Anruf. Martin Jones fiel ihr ein. Sie musste ihn unbedingt als einen der ersten einweihen. Der würde sich freuen. Mit einem Mal wurde Catherine bewusst mit welch einem Instrument sie es zu tun hatte. Dieser Spiegel könnte den Weltfrieden bedeuten, schoss es ihr durch den Kopf.
Drei Wochen später klingelte Catherine’s Telefon. Sie erkannte die Nummer sofort und eröffnete das Gespräch mit „Hallo Patricia.“ Patricia schien in Eile zu sein. „Wäre es möglich, dass ich mir den Spiegel einmal persönlich ansehe?“ „Hast Du denn etwas herausgefunden?“ erwiderte Catherine. „Ich habe etwas, bin mir jedoch noch nicht ganz sicher.“
Catherine gab Patricias Bitte nach. „Also gut, ich habe mir gerade die Flüge angesehen und könnte morgen am frühen Nachmittag bei dir sein.“ „Du hast es aber eilig.“ bemerkte Catherine erstaunt. Patricia hielt für einen Moment inne bevor sie antwortete. „Du wirst staunen wenn ich recht habe.“
Am darauf folgenden Tag empfing Catherine Patricia in ihrem Studio. Den Spiegel hatte sie mit einem weissen Tuch verhängt. Das türkisfarbene Schimmern, dass stets von dem Spiegel ausging, war durch den Stoff in dem hellen Zimmer nicht zu sehen.
„Nun mein Teure,“ eröffnete Catherine, nachdem sie in den bequemen Polstersesseln in Catherine’s Studio Platz genommen hatten, das Gespräch, „Was hast Du denn so spannendes herausgefunden, dass du gleich so mir nichts, dir nichts ins Flugzeug steigst?“
„Um anzufangen muss ich sagen, dass mich der Spiegel seit deinem Anruf nicht mehr losgelassen hat. Ich hatte einen regelrechten Drang dieser Sache nach zu gehen, obwohl mir die Arbeit bis zum Hals steht. Ich habe mir also ein paar Nächte um die Ohren geschlagen. Und Heureka, da hat die gute Pat doch noch etwas zu Tage gefördert das passen könnte.“ Catherine blickte Patricia erwartungsvoll an. „Das Internet hat nicht viel Brauchbares ausgespuckt, in der Unibibliothek bin ich jedoch in einem alten Schmöker über Mystik im alten Europa auf einen kurzen Abschnitt gestossen. Darin stand von einem Spiegel zu lesen, der angeblich mystische Eigenschaften besitzen solle. Der Zauber bestehe darin, dass der Blick in den Spiegel immer währendes Glück verheisse. Der Erschaffer dieses Werkes sei ein Mann namens Simeon Donnerherz. Über den Verbleib des Spiegels war darin nichts weiter enthalten als dass der Spiegel wohl im Krieg zerstört worden ist. Ich habe mir den Rahmen genau unter die Lupe genommen und dabei ein auffälliges S. am Fuss des Rahmens entdeckt. Auch das könnte auf Simeon Donnerherz hinweisen. Ausserdem habe ich mir Bilder der ganz wenigen erhaltenen Werke von Donnerherz angesehen und der Stil könnte passen. Über Simeon Donnerherz ist indes nur wenig bekannt. Nur soviel, dass er zusammen mit seiner Tochter FeuerErde auf dem Land gelebt hat und wohl so eine Art Seelsorger gewesen sein soll. Ausserdem war er Künstler und Magier, wie es heisst, und es wird gesagt, dass er seine Werke mit verschiedensten Zaubern belegte.“ „Und was waren das für Zauber?“, fragte Catherine. „Simeon Donnerherz war wohl ein echter Magier. Er habe Bilder erschaffen, die je nach Betrachter, Farben und Formen wechselten. Seelenabbilder. Erleuchtung und immer währendes Glück gehe von ihnen aus. Leider sind wie gesagt kaum mehr Bilder auffindbar.“ Catherine blickte Patricia verwundert an. „Ich habe gelesen“, fuhr die Archäologin fort, „dass Simeon Donnerherz seine Werke mit Schutzzaubern belegt haben soll, um sie gegen Diebstahl oder anderen Missbrauch zu schützen. Darüber ist jedoch nichts näheres bekannt. Vielleicht ist es aber der Grund dafür, dass keines seiner Werke auffindbar ist. Nichtsdestotrotz sind ein paar Fragmente und Beschreibungen seiner Werke vorhanden.“ „Und der Spiegel?“ fragte Catherine. „Simeon Donnerherz soll tatsächlich einen Spiegel erschaffen haben. Von ihm weiss man, dass er Heilkräfte besitzen soll. Man spiegle darin nicht sein Gesicht, sondern die eigene Seele. Leider gibt es keine Bilder des Spiegels. Die wenigen überlieferten Berichte jedoch erzählen einstimmig, der Blick in den Spiegel verheisse unendliches Glücklichsein.“ Ein Lächeln huschte über Catherine’s Gesicht. „Und weiter?“
„Nachdem Simeon Donnerherz gestorben war, erbte wahrscheinlich seine Tochter den Spiegel. Über FeuerErde ist jedoch nur bekannt, dass sie offenbar im Krieg getötet wurde. Während und nach dem Krieg ist nie wieder eine FeuerErde in Erscheinung getreten, obwohl auch ihre Leiche nie gefunden wurde. Von diesem Zeitpunkt an verliert sich auch die Spur des Spiegels. Auch von dieser Quelle wurde vermutet, dass der Spiegel schon während des Krieges zerstört worden ist.“ „Faszinierend.“ bemerkte Catherine.
„Es kommt noch besser. Bei meinen Recherchen bin ich auf ein Buch mit dem Titel „Glück aus dem Spiegel“ gestossen. Es handelt sich dabei nicht um eine Fantasygeschichte, wie der Titel vielleicht vermuten lässt, sondern um die Autobiographie eines Soldaten der ein Konzentrationslager überlebt hat. Der Autor, Gabriel Kerner, war im letzten grossen Krieg als junger Soldat an der Front. Er berichtet, dass er beim Sturm auf ein unbewaffnetes Haus in einen Spiegel geblickt habe, den ihm die Bewohnerin vorgehalten habe. Dieser Blick habe sein Leben völlig verändert. Er habe nicht weiter am Töten teilnehmen können und er wurde deshalb verurteilt und in ein Konzentrationslager deportiert. Er berichtet auch, dass nachdem die Bewohnerin des Hauses von seinen ehemaligen Kameraden getötet worden sei, der Spiegel diese Glück bringende Eigenschaft verloren habe. Der Spiegel sei nur noch schwarz gewesen, schreibt Kerner. Deshalb habe ihm auch niemand geglaubt.“ „Unglaublich.“ Unterbrach sie Catherine. „Ich habe sogar mit Gabriel Kerner gesprochen.“ fuhr Patricia fort. „Du wirst es nicht glauben aber der Mann lebt noch. Er ist 107 und erfreut sich bester Gesundheit. Er sagte mir, er sei der Frau unendlich dankbar für den Blick in diesen heiligen Spiegel. Er werde nie um die Frau zu trauern aufhören. Er habe mit einem Schlag in sein tiefstes Inneres geblickt und die ewige Gewissheit der Freiheit des Geistes erhalten. So habe er das Schinden im KZ bestens überstanden und sogar noch vielen, denen es schlechter gegangen sei als ihm selbst, mit Trost und Mitgefühl beistehen können. Er habe jedoch keinerlei Kenntnisse vom Verbleib des Spiegels. Er wusste lediglich, dass das Haus niedergebrannt wurde, mitsamt des Leichnams seiner Bewohnerin. In seinem Buch schreibt er, es entziehe sich seiner Kenntnis ob der Spiegel im Haus verbrannt sei oder mitgenommen wurde. Als letztes hatte ein Leutnant namens Steger den Spiegel in der Hand. Gabriel Kerner hatte nach dem Krieg versucht, besagten Leutnant ausfindig zu machen. Doch Leutnant Steger war während des Krieges getötet worden. Kerner sagte, es sei aus besserem Hause, deshalb habe er Glück gehabt nur ins Lager gekommen zu sein anstelle von Exekution. Ich habe Gabriel Kerner dein Bild des Spiegels geschickt und er hat den Rahmen sofort wieder erkannt. Was sagst Du nun?“ „Erstaunlich, wirklich erstaunlich.“ Catherine war verblüfft.
Die beiden Frauen sassen schweigend in ihren Sesseln. Langsam setzte die Dämmerung ein.
„Also zu allererst muss ich dir ein grosses Kompliment machen.“ brach Catherine die Stille. „Du hast vorzügliche Arbeit geleistet. Es ist mit Sicherheit der Spiegel von Simeon Donnerherz.“ Catherine hielt für einen Moment inne. „Ich frage mich ob Simeon Donnerherz den Spiegel mit einem Zauber belegt haben könnte. Einem Schutzzauber, wie du ihn erwähnt hast. Eine Art Rückversicherung die den Spiegel bei gewissen Umständen bannt.“ „Du glaubst, FeuerErde’s gewaltsamer Tot könnte so ein Umstand und damit der Auslöser für die Veränderung, sprich Bannung des Spiegels, wie sie Kerner beschrieben hat, sein.“ Catherine nickte. „Nun bleibt die Frage offen, was den Bann gebrochen hat.“ Patricia blicke erstaunt auf. „Wieso den Bann gebrochen?“ Patricia sah Catherine an, als käme diese vom Mond. Catherine lächelte und schaute hinüber zum Kamin, neben dem, verhüllt, der Spiegel hing. Im Licht der Dämmerung hatte das türkiserne Licht angefangen, durch den weissen Stoff zu glimmen. „Du meine Güte. Was ist geschehen?“ „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich stand direkt davor, als der Spiegel sich verwandelte. Wie aus dem Nichts.“ Catherine schmunzelte. „Vielleicht ist es ein Zauber auf Zeit.“
Die beiden Frauen sahen sich lange an. Dann erhob sich Catherine. „Komm, meine Teure. Lass uns vor dem Diner noch einen Blick in den Spiegel werfen.“
III. Nachwort
An dieser Stelle beende ich die Erzählung. Wir sind nun in der Gegenwart angekommen und ab jetzt, ist es dem Leser überlassen wie die Geschichte weitergehen soll. Der Spiegel bleibt mit Sicherheit ein Objekt, dass mit grösster Achtsamkeit und Würde behandelt werden sollte. Für Catherine Darnley ist nicht zu hundert Prozent geklärt, welche genauen Umstände den Spiegel gebannt haben, noch welche zu seiner Reanimierung führten. An dieser Stelle sei seitens des Autors erläutert, dass Simeon Donnerherz den Spiegel tatsächlich mit einer magischen Verfügung belegt hat, deren zugrunde der Spiegel niemals gestohlen, geraubt oder erpresst werden darf. Einzig ist es möglich den Spiegel zu kaufen, zu erben oder als Geschenk zu empfangen. Mit dem gewaltsamen Tod FeuerErdes wurde der Spiegel zu Raubgut und der Bann trat in Kraft. Gemäss Donnerherz’s Zauber hält der Bann jeweils für neunundachtzig Jahre.


